Freitag, 13. Mai 2016

# 50 - Was hat eine Freundschaft mit gutem Essen zu tun?

Über eine Freundschaft zwischen Menschen, die (eigentlich) nichts gemeinsam haben

 

Ich möchte euch heute ein Buch ans Herz legen - so viel Pathos ist hier durchaus angebracht -, das wie der Gegenentwurf zu so vielen anderen Büchern wirkt, die von Kritikern hoch gelobt werden. Es überzeugt durch seine einfache, klare Sprache und enthält ein ganzes Fuder Lebensweisheit. Die Rede ist von Kirschblüten und rote Bohnen des japananischen Autors Durian Sukegawa.

Ex-Häftling trifft auf alte Frau

 

Sentaro ist ein junger Mann, der sein Leben bis jetzt gehörig vergurkt hat: Er hat sich in Drogengeschäfte verwickeln lassen und dafür einige Jahre im Gefängnis gesessen. Weil er bei der Polizei nicht über die Hintermänner auspacken wollte, wurde ihm auch kein Strafrabatt gewährt. Unnötig zu erwähnen, dass er außer einem einfachen Schulabschluss über keine Qualifikation verfügt. Doch aus Dankbarkeit für sein Schweigen bietet ihm einer dieser Hintermänner an, für ihn in seinem Dorayaki- Imbiss 'Doraharu' zu arbeiten. Dorayakis sind runde Pfannkuchen, die mit einer süßen Paste aus roten Bohnen gefüllt werden. Da er beim Inhaber obendrein auch noch Schulden hat, wird das Doraharu für Sentaro zu seiner persönlichen Hölle. Doch nach nur drei Jahren stirbt sein Chef unerwartet, und dessen Witwe übernimmt den Imbiss. Da sie vom Geschäft oder gar von der Herstellung der Dorayakis keine Ahnung hat, ernennt sie Sentaro zum Geschäftsführer. Doch den hält nur die Aussicht, irgendwann seine Schulden abbezahlt zu haben, in diesem Job. Die traditionelle Süßspeise stellt er lust- und lieblos her und greift bei der Herstellung des Bohnenmus' auf ein Fertigprodukt aus dem Kanister zurück. Seine Dorayaki schmecken ihm nicht, aber das ist ihm gleichgültig. Direkt nach Feierabend geht er in die nächste Kneipe und spült seinen Kummer hinunter. Doch nachdem er einen Aushang an die Tür geklebt hat, mit dem er einen Helfer sucht, meldet sich nur eine alte Frau, Tokue. Sie ist bereit, für einen lächerlich geringen Lohn für ihn zu arbeiten. Sentaro sträubt sich zunächst, Tokue einzustellen, weil sie schon 76 Jahre alt ist und gebrechlich wirkt. Doch sie lässt nicht locker und überzeugt ihn schließlich, indem sie das beste Bohnenmus herstellt, dass Sentaro jemals gegessen hat.
Weil Tokue an den Händen und im Gesicht entstellt ist, hat Sentaro Bedenken, sie beim Verkauf helfen zu lassen. Er spricht Tokue nicht auf die Herkunft der Entstellungen an und behält auch die Gründe, warum sie nur in der Küche arbeiten soll, für sich. 

Das Blatt scheint sich zu wenden

 

Der ungewöhnlich gute Geschmack der Dorayakis spricht sich herum, und schon bald kann sich der Imbiss vor Kunden kaum noch retten. Eine der neuen Kundinnen ist das 14-jährige Schulmädchen Wakana: Sie lebt nach der Trennung ihrer Eltern bei ihrer Mutter, die ständig Geldsorgen hat. Mit ihr kommt Tokue nach und nach ins Gespräch, und nach einiger Zeit stellt das Mädchen der alten Frau die Frage, die auch Sentaro immer auf der Zunge liegt: Warum sind Tokues Finger so verkrümmt? Doch die Antwort, das sei auf eine schlimme Krankheit in ihrer Jugend zurückzuführen, bleibt vage.
Alles ändert sich, als kurz darauf Sentaros Chefin in den Imbiss kommt und von ihm verlangt, die alte Frau zu entlassen. Sie habe gehört, sie sei an Lepra erkrankt gewesen, und so etwas wollten die Kunden nicht sehen. Und überhaupt könne man ja nie wissen, ob die Krankheit nicht immer noch ansteckend sei.
Kurz darauf versiegt der Kundenstrom, sodass kaum noch Bohnenpaste zubereitet werden muss. Tokue kommt zunächst seltener, doch dann macht sie es Sentaro leicht und kündigt von sich aus. Doch der Kontakt zu ihr bricht nicht ab, und sie öffnet sich gegenüber Sentaro und Wakana und gibt ihnen tiefe Einblicke in ihr Leben.

Ein Ende mit Tragik, aber nicht ohne Hoffnung

 

Zwischen Sentaro, Wakana und Tokue entsteht eine tiefe Verbundenheit, die vor allem der empathischen und lebensklugen Tokue zu verdanken ist. Durian Sukegawa greift in seinem Buch auch die Art und Weise auf, wie Japan mit seinen Leprakranken seit dem Ende des 2. Weltkriegs umgegangen ist: Obwohl die Erkrankten dank eines seinerzeit aus den USA eingeführten Medikaments völlständig gesund wurden und niemanden anstecken konnten, blieb es bis 1996 dabei, dass sie die eigens gebauten Leprosorien nicht verlassen durften. Es gab Zwangsarbeit, die Männer wurden zwangssterilisiert, Föten erkrankter Frauen abgetrieben oder ihre Babys getötet. Im ganzen Land wurden Leprakolonien errichtet, und in den ersten Jahren wurden die Kranken in Einzelzzellen isoliert. Allen, die in eine der Leprakolonien gebracht wurden, war klar, dass sie ihre Familien nie wiedersehen würden. 
Aber auch nach 1996 hat sich das Leben der Menschen, die vor Jahrzehnten erkrankt sind, nicht wesentlich verbessert: Sie können sich zwar frei bewegen, sind aber wegen ihrer Entstellungen sozial isoliert. Da sich in den meisten Fällen auch ihre Angehörigen von ihnen abgewendet haben, bleiben sie letztendlich unter sich.
Das erinnert stark an den Umgang mit den Menschen, die durch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki und den Atomunfall in Fukushima durch Radioaktivität sofort oder später geschädigt wurden: Auch sie werden gemieden, als hätten sie eine todbringende Krankheit und haben keine Möglichkeit, ein halbwegs normales Leben zu führen

Ich habe es bisher vermieden, mit Zitaten aus Büchern zu arbeiten, über die ich schreibe. Hier will ich eine Ausnahme machen. Tokue gibt Sentaro diesen Satz mit auf den Weg:

"Zäune überwinden kann nur, wer mit einem Herzen lebt, das Zäune überwunden hat."


Durian Sukegawa ist ein japanischer Romanautor, Fernseh- und Radiomoderator, Schauspieler und Punkmusiker. Kirschblüten und rote Bohnen wurde unter dem Titel "An" (Anm.: japanisch für Bohnenmus) ein Bestseller und für die Festspiele in Cannes 2015 verfilmt. 

Kirschblüten und rote Bohnen ist 2016 im DuMont Buchverlag erschienen und wurde mir von bloggdeinbuch zur Verfügung gestellt, wofür ich mich herzlich bedanke. Es kostet in der gebundenen Ausgabe 18,-- € und als epub- oder Kindle-Edition 14,99 €. Es kann online hier bestellt werden: Bestell-URL