Freitag, 23. Dezember 2016

# 81 - Gestorben wird immer

Ein Leben voller Dramen und Abgründe

 

Agnes Weisgut ist 91 Jahre alt und eine starke, aber auch harte und gefühlskalte Frau. So erleben sie zumindest ihre Söhne, die als selbstständige Steinmetze in Hamburg in ihrer Nähe leben, und ihre Enkelkinder Birte, Peter und Bosse. Aber auch hier gilt die Redewendung: Nichts ist so, wie es scheint. Alexandra Fröhlich schildert in ihrem Roman Gestorben wird immer das Schicksal einer Frau, die unendliches Leid erlitten, aber auch Schuld auf sich geladen hat.
  

Wer kann das aushalten?

 

Wenn man nach einem Beispiel für eine Familienmatriarchin sucht, ist Agnes erste Wahl. Sie führt ein straffes Regiment, weiß über alle Bescheid und greift durch, sobald sie sieht, dass die Dinge aus dem Ruder laufen. Wer bei ihr Warmherzigkeit und Güte sucht, sucht vergeblich. Wenn sie mit ihren "Lieben" spricht, dann ein Machtwort. Im Gegenzug wird sie von ihren Kindern und Enkeln respektiert, vielleicht auch geachtet, aber nicht unbedingt geliebt. Sie wissen, dass die Großmutter aus Königsberg stammt, ihr Mann Wilhelm als Soldat in Russland vermisst wurde und die junge Mutter mit ihren vier Kindern aus Ostpreußen im Februar 1945 Richtung Westen geflohen ist. Den Steinmetzbetrieb ihres Mannes musste sie zurücklassen und in Hamburg, wohin es sie zufällig verschlagen hatte, neu anfangen. Das hat sie mit sehr gutem Erfolg geschafft, was nicht zuletzt ihrer Intelligenz und Beharrlichkeit zu verdanken ist.
Doch es gibt eine ganze Menge, was die meisten in Agnes' Familie nicht wissen: warum ihre Tochter Martha von einem Tag auf den anderen ein bisschen verrückt wurde und vor 30 Jahren unangekündigt ihre Familie verließ oder wohin ihr Mann Wilhelm, ein kriegsbegeisterter Nazi, so plötzlich verschwunden ist. 
Was allen gemeinsam ist, ist ein für sie unerklärliches Gefühl von Unvollkommenheit, mit dem jeder anders umgeht: Marthas extrem ehrgeizige Tochter Birte ist kaum bindungsfähig und koppelt jede Emotion zwanghaft mit Fress-Brech-Attacken, während ihr Zwillingsbruder Peter dick und träge ist und sich in seinem aus Birtes Sicht glanzlosem Leben mit seiner unscheinbaren Frau und den zwei Kindern eingerichtet hat. 
Bosse, ein weiterer von Agnes' Enkeln, steht Birte näher als deren eigener Bruder, obwohl er kaum gegensätzlicher als sie sein könnte: Er entspricht eher dem Typ "liebenswerter Chaot" und studiert Fächer, die kaum Aussicht auf eine spätere regelmäßige Berufstätigkeit bieten. Aber er ist offen und empathisch und blickt hinter die oft unterkühlt wirkende Fassade seiner Cousine.


Die Kenntnis um die Familiengeschichte ist der Schlüssel zu Verständnis und Vergebung

 

Agnes Weisgut will in ihrem hohen Alter endlich reinen Tisch machen. Deshalb fordert sie Birte auf, die ganze Familie zu einem Treffen nach Hamburg zu holen. Das ist gar nicht so einfach: Zwei von Agnes' Söhnen sind derart zerstritten, dass sie seit Jahren kein Wort mehr miteinander gewechselt haben. Auch Martha, die seit Jahren verschwundene und als verrückt geltende Tochter, soll kommen und sich anhören, was die Mutter ihnen zu sagen hat. Martha lebt nach einer Odyssee durch verschiedene europäische Länder nun im litauischen Nida, 1.000 Kilometer von Hamburg entfernt. Widerwillig sagt Birte ihrer Großmutter zu, alle zum Kommen zu bewegen und bittet Bosse, sie zu unterstützen. Was beide nicht ahnen: Es wird nicht nur über das Leben ihrer Großmutter, sondern auch über ein lange gehütetes Geheimnis, in dem es um den Tod von Bosses Schwester Astrid geht, gesprochen werden.

Gestorben wird immer erzählt die Geschichte einer Frau, die 1935 im Alter von 18 Jahren einen Mann heiratet, den sie nicht liebt, weil ihre Eltern es für das Beste halten. Erst später erfährt sie den wahren Grund: Ihre Großmutter war eine Jüdin, und die Ehe mit dem strammen Nationalsozialisten Wilhelm Weisgut versprach einen Schutz für die ganze Familie. Agnes arrangiert sich und versucht auch dann, als ihr Mann in den Krieg zieht und sie mit ihren Kindern und der verhassten Schwiegermutter zurückbleibt, den Steinmetzbetrieb aufrecht zu erhalten. Sie hat ein Gespür für heraufziehende Gefahren und handelt stets so, wie sie es für sich und ihre Kinder für richtig hält. Alexandra Fröhlich beschreibt in ihrem Buch eine Frau, die alle Höhen und Tiefen erlebt, sich aber nie unterkriegen lässt. Ein Roman, den ich unbedingt empfehlen kann.

Gestorben wird immer wurde mir vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt, wofür ich mich herzlich bedanke. Es ist 2016 im Penguin Verlag erschienen und kostet als Paperback-Ausgabe 13,-- Euro sowie als epub- oder Kindle-Edition 9,99 Euro.

Dieses Buch ist das letzte, das ich euch 2016 vorstelle, die Bücherkiste klappt ihren Deckel über Weihnachten und den Jahreswechsel zu. Am 6. Januar 2017 geht es mit dem nächsten Buch weiter. Bis dahin wünsche ich allen Lesern frohe Weihnachtstage und einen guten Rutsch ins neue Jahr!


 
 

Freitag, 16. Dezember 2016

# 80 - Was macht China aus?

Eine Übersetzung, die ein Leben verändert

 

London im April 2013: Die Übersetzerin Iona Kirkpatrick beginnt mit ihrer Arbeit an einem Stapel fotokopierter chinesischer Schriftstücke. Der ihr bis dahin nicht bekannte Verleger Jonathan Barker hat ihr vor einigen Wochen ein ungeordnetes Konvolut von Tagebüchern und Briefen gegeben, von denen er den Eindruck hat, dass hinter ihnen etwas Bedeutendes stecken könnte. Tatsächlich soll sich diese Vermutung bestätigen. Um diesen Plot rankt sich die Geschichte, die die chinesische Autorin Xiaolu Guo in ihrem Roman Ich bin China erzählt.

Das Individuum ist der Feind des Kollektivs

 

Iona führt ein Leben in einer selbstgewählten Einsamkeit: Außer der wechselnden Sexualpartner, zu denen sie keine emotionale Bindung hat und die sie nach einer gemeinsamen Nacht aussortiert wie einen Packen Altpapier, bekommt sie keinen Besuch. Ihre Schwester, die in ihrer Rolle als Mutter aufgeht, sieht sie selten, die Eltern noch seltener. So vertieft sie sich in die chinesischen Aufzeichnungen, die ihr zunächst rätselhaft erscheinen. Doch nach und nach begreift sie, dass sie eine ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen zwei Chinesen vor sich hat, die von Anfang an schwierig ist und durch das politische System behindert wird. Sie beginnt Anfang November 1993: Kublai Jian ist 21 Jahre alt, Student und Punk-Musiker in Peking, die 18-jährige Deng Mu ist als Besucherin beim Konzert seiner Band. Schon zwei Monate später kritisiert Jian seine Freundin in einem seiner Tagebucheinträge: Sie hat begonnen, sich für den Dichter Hai Zi zu interessieren, der für ihn nicht akzeptabel ist, weil er dessen Lyrik für rückgewärtsgewandt und morbide hält. Was soll man schon über einen denken, der sein Leben mit 25 auf Eisenbahnschienen liegend beendet? 
Im Laufe der Jahre werden Mu und Jian ihre Höhen und Tiefen mteinander haben, für eine kurze Zeit sind sie sogar Eltern eines Sohnes. Doch dann, im Dezember 2011, wird Jian außer Landes gebracht, nachdem man ihn zuvor in der Gefangenensammelstelle vor der Stadtgrenze Pekings festgehalten hatte. Ihm ist zum Verhängnis geworden, während eines seiner Konzerte ein politisches Schriftstück, das er als sein Manifest bezeichnet, ins Publikum geworfen zu haben. Ein Schriftstück mit den Gedanken des Künstlers, die sich nicht an die Staatsdoktrin halten wollen. Das kann nicht gutgehen, zumal Jian einer Familie angehört, zu der ein Kriegsheld und ein hoher Funktionär gehören. So wird eine Nervenklinik in Lincolnshire seine erste Station, der noch weitere folgen sollen. Aber Jian und Mu versuchen noch eine Weile, den Kontakt durch Briefe aufrechtzuerhalten, die jedoch immer verzögert ihre Empfämger erreichen: Nicht nur Jian wechselt mehrmals den Aufenthaltsort, sondern auch Mu versucht, sich ohne ihren Freund ein eigeständiges Leben als singende Protest-Lyrikerin aufzubauen. Ein Manager formt eine Band mit ihr als Frontfrau und organisiert eine USA-Tour, die den Protest kommerzialisiert. Damit entfernt sie sich ein gutes Stück von der Idee Jians, mit Musik eine politische Veränderung zu bewirken.

Der Sog einer Lebensgeschichte

 

Iona vertieft sich so sehr in die chinesischen Unterlagen, dass sie ihr eigenes Leben zunehmend aus den Augen verliert. Immer tiefer steigt sie in die chinesische Geschichte um Mao und den Langen Marsch ein, um zu verstehen, was in Mu und Jian vorgeht und worauf deren Konflikte begründet sind. Sie recherchiert ausführlich, und zusammen mit Jonathan gelingt es ihr, die Puzzleteile, die zu Jiangs Leben gehören, zu einem großen Ganzen zusammenzuführen. Der Lebensabschnitt von Jian in Europa beginnt keine 1 1/2 Jahre vor Ionas Übersetzungsarbeit, sodass die Übersetzerin in dem Gefühl arbeitet, sie laufe den frischen Spuren der beiden Chinesen hinterher. Jonathan ist von der Entwicklung und den Erkenntnissen, die mit Ionas Arbeit gewonnen werden konnten, so begeistert, dass er die Unterlagen unbedingt als Buch herausbringen will. Doch da gibt es Leute, die seine Pläne verhindern wollen: Jemand hat sich Zugang zu allen gespeicherten Projektdaten verschafft, die beim Verlag vorhanden sind. Kurz darauf wird Jonathan zum ersten Mal und ohne eine stichhaltige Begründung ein Visum nach China verwehrt. Er beschließt trotz Ionas Protest, die Veröffentlichung zu stoppen. Iona hat sich indessen eine ganz andere Idee in den Kopf gesetzt: Sie will versuchen, den Konatkt zwischen Mu und Jian wieder herzustellen.

Ein großer Bogenschlag in der Geschichte Chinas

 

Ich bin China geht in der chinesischen Geschichte so weit zurück, wie es nötig ist, um insbesondere Jians Lebensweg zu erklären, nämlich bis zur Zeit des Langen Marsches 1934 bis 1935. Xiaolu Guos Roman ist sehr vielschichtig angelegt und zeigt den Konflikt zwischen dem früheren und modernen China auf, in dem Individualität und Freiheit bis heute der Stabilität und Ordnung untergeordnet sind. Ein Buch, das ich unbedingt empfehlen kann.

Ich bin China wurde mir vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt, wofür ich mich herzlich bedanke. Es ist 2015 im Knaus Verlag  erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 19,99 €.

Hinweis: Wer sich für den Maoismus in China interessiert, sollte sich auch das Buch  Das Mädchen aus der Volkskommune - Chinesische Comics ansehen.

Freitag, 9. Dezember 2016

# 79 - Wenn die Sommerhitze den Verstand verbrennt

Das kollektive Gedächtnis vergisst und vergibt nicht

 

Der Farmer Luke Hadler hat ganz offensichtlich seine Frau Karen und seinen Sohn Billy getötet und sich dann auf der Ladefläche seines Pick-ups erschossen. Nur Lukes kleine Tochter Charlotte, die gerade ein Jahr alt ist, blieb verschont. 
Wie fast immer sind die Fliegen die ersten, die die Leichen entdecken. Kurz nach ihnen trifft der Postbote ein. So beginnt der Thriller The Dry von Jane Harper, der in der Kleinstadt Kiewarra irgendwo in Australien spielt.

Eine Kleinstadt ächzt unter der Dürre - eine Stimmung, um die Nerven zu verlieren

 

Aaron Falk kommt nach 20 Jahren anlässlich der Beerdigung seines Jugendfreunds Luke zum ersten Mal wieder in seine Heimatstadt, an die er nur wenige gute Erinnerungen hat. Er muss sich dazu überwinden, aber Lukes Eltern Barb und Gerry hatten ihn inständig darum gebeten. Die frühere enge Beziehung zu ihnen spielt bei Aarons Entscheidung eine Rolle, aber den Ausschlag, alle Bedenken über Bord zu werfen, gibt der Schluss in Gerrys Brief: Luke hat gelogen. Du hast gelogen.
Als Aaron in Kiewarra eintrifft und die Kirche betritt, in der die Trauerfeier abgehalten werden soll, brechen alte Erinnerungen hervor. Er muss den Blicken der Trauergäste standhalten, die ihn wiedererkennen und beschließt, die Rückreise nach Melbourne in spätestens 18 Stunden anzutreten. Jeder, mit dem Aaron nach dem Kirchgang spricht, verurteilt Lukes Tat, aber alle haben eine Erklärung parat, die jedem einleuchtet: Man erzählt sich, Luke sei total verschuldet gewesen und habe keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als sich und seine Familie auszulöschen. Die schon so lange dauernde Dürre habe doch schon mehreren Farmern wirtschaftlich das Genick gebrochen. Doch warum ließ er die kleine Charlotte am Leben? Auch da ist man sich im Ort einig: Vermutlich sei er am Bett seiner Tochter zur Besinnung gekommen und habe es nicht mehr übers Herz gebracht, auch sie zu töten. Damit könnte der tragische Fall der Familie Hadler erledigt sein. Aber eine Person hat Zweifel: Sergeant Raco sieht in einzelnen Details zu viele Ungereimtheiten und beschließt, Nachforschungen anzustellen, obwohl die Beamten der ihm vorgesetzten Polizeistation in Clyde die Lage für offensichtlich halten und die Akten bereits geschlossen haben. Raco hat von niemandem Hilfe zu erwarten: nicht aus Clyde, wo man Kiewarra für ein hinterwäldlerisches Nest hält, und auch nicht von den eigenen beiden Kollegen, denen es an Eifer und Fähigkeit mangelt.

Die Vergangenheit lässt sich nicht abschütteln

 

Aaron Falk ist Bundespolizist, allerdings bei der Steuerfahndung. Aber sowohl er als auch Raco sind sich darin einig, dass an diesem erweiterten Suizid etwas faul ist. Sie beginnen mit inoffiziellen Ermittlungen, und Aarons Plan, so bald wie möglich die Heimreise anzutreten, gerät ins Wanken. Die Ermittlungen gestalten sich jedoch schwierig. Viele Bewohner der Stadt wissen noch genau, warum Aaron und sein Vater vor 20 Jahren fluchtartig Kiewarra verlassen hatten. Damals war Ellie, ein Mädchen, mit dem sowohl er als auch Luke befreundet waren, verschwunden und erst Tage später tot im Fluss gefunden worden. Aaron und Luke waren von der Polizei befragt worden, und Luke hatte ihr über seinen Freund, der kein brauchbares Alibi hatte, gesagt, dieser sei mit ihm zusammen auf Kaninchenjagd gewesen. Ganz Kiewarra war sich einig gewesen, dass Aaron ein Mörder ist und wurde von der Familie der Toten immer wieder aufgestachelt. Als der alte Falk und sein Sohn um ihr Leben fürchten mussten, waren sie Hals über Kopf geflohen. Aaron stößt bei seinen Nachforschungen zum Tod der Familie Hadler auch auf neue Erkenntnisse, die Ellies Tod betreffen.

Spannung pur

 

The Dry ist ein rundum gelungener Thriller. Jane Harper ist in ihrem ersten Buch nicht darauf angewiesen, Spannung durch Effekthascherei und Unmengen von Blut zu erzeugen. Bis fast zum Schluss bleibt unklar, wer für den Tod von Luke, Karen und Billy Hadler die Verantwortung trägt. Auch Ellies Tod, der die Bürger von Kiewarra zu den unterschiedlichsten Spekulationen anfeuerte, klärt sich auf. Kurzum: The Dry gehört zu den besten Thrillern, die ich kenne.

The Dry wurde mir von bloggdeinbuch zur Verfügung gestelt, wofür ich mich herzlich bedanke. Es kann über den örtlichen Buchhandel sowie über den Rowohlt-Verlag zum Preis von 14,99 € bezogen werden. 
 

 

  


Montag, 5. Dezember 2016

Altes und Neues nebeneinander - Das war der November

Geschichte, Humor, der Wunsch nach dem ewigen Leben und das Sterben in der Einöde

 

In Hummelhonig beschreibt Torgny Lindgren die Geschichte zweier alter Brüder, die in einem Kaff in Nordschweden leben und auf den Tod zusteuern. Doch jeder der beiden will beim Überleben als Sieger hervorgehen. Eine mäßig erfolgreiche Schriftstellerin, die sich in der Gegend auf einer Lesereise befindet, verbringt den Winter unfreiwillig bei einem der Brüder. Nach und nach kommt sie hinter das Geheimnis, das die alten Männer in einer seit Jahrzehnten dauernden Hassliebe verbindet. Ein sehr schöner und trotz - oder wegen - seiner schnörkellosen Sprache einfühlsam geschriebener Roman, der schon seit seinem Erscheinen vor fast 20 Jahren in meinem Regal steht.
Torgny Lindgren ist seit 1991 Mitglied der Schwedischen Akademie, die die Literaturnobelpreisträger auswählt. Der Jury gehörte er bis 2014 an.
Eine ukrainische Filmgesellschaft verfilmte seinen Roman 2012 unter dem Titel "Brothers - The last confession" und ließ die Brüder anstatt in Schweden  - na klar - in der Ukraine ihren Zwist austragen. Hier gibt es einen Trailer:





von 5 




In Die Unglückseligen von Thea Dorn trifft die Molekularbiologin Johanna Mawet auf den heute längst vergessenen Physiker Johann Wilhelm Ritter. Ritter ist 240 Jahre alt, zeigt aber keine altersgemäßen Gebrechen - wenn man das bei einem derart deutlichen Überschreiten der üblichen Lebenserwartung überhaupt sagen kann. Ritter hat während der Zeit der deutschen Romantik viel mit Elektrizität experimentiert, und Johanna fällt auf, dass seine Wunden ungewöhnlich schnell verheilen. Von dieser Beobachtung ist sie, die sich seit Jahren mit der Frage beschäftigt, wie man den Menschen vor dem Tod bewahren kann, fasziniert. Liegt in Ritters Versuchen der Schlüssel zum ewigen Leben?
Ein spannendes und interessantes Buch, das hier und da etwas hätte gestrafft werden können.

Thea Dorn spricht hier über ihr Buch:







Auch der Roman Bühlerhöhe von Brigitte Glaser spielt in der Vergangenheit, geht aber nur bis in die 1950-er Jahre zurück: Die Bundesrepublik Deutschland ist noch jung, der Staat Israel ebenso, und Konrad Adenauer ist der erste Kanzler der BRD. Er kümmert sich um eine Aussöhnung zwischen den Deutschen und Juden und ist für das Zustandekommen des Luxemburger Abkommens, das Entschädigungsleistungen und -zahlungen an Israel sowie enteignete Juden vorsieht, verantwortlich. Ihm ist bewusst, dass ihm Gefahr aus dem kommunistischen Lager droht, er unterschätzt jedoch die Bedrohung durch diejenigen Israelis, die mit dem Abkommen nicht einverstanden sind. Der Mossad schickt deshalb die noch unerfahrene Agentin Rosa Silbermann undercover in den Schwarzwald, wo Adenauer seine Sommerferien verbringen will. Wird es ihr gelingen, den Attentäter zu identifizieren und rechtzeitig zu stoppen? Brigitte Glaser belässt es nicht bei der eindimensionalen Erzählung ihrer Geschichte, sondern widmet sich auch der Vergangenheit, die die meisten Protagonisten als Bürde mit sich herumtragen. Bühlerhöhe gehört zu den Büchern, die sich im Verlauf der Handlung steigern und die man bis zur letzten Seite nicht mehr aus der Hand legen will. Das im Buch beschriebene Grandhotel Bühlerhöhe gab und gibt es tatsächlich, Konrad Adenauer hat dort mehrere Ferienaufenthalte verbracht. Nach einer Sanierung wurde es unter dem Namen "Schlosshotel Bühlerhöhe" wieder eröffnet und ist mutmaßlich so teuer, dass es das Budget eines Durchschnittsurlaubers gleich mehrmals sprengen kann: Da auf der Hotel-Homepage kein Zimmerpreis zu finden ist, kann sich jeder sein Teil denken. Auch wenn es nicht ganz zu einer Buchrezension passt, will ich euch anstelle eines Interviews mit der Autorin ein Video mit Atze Schröder zeigen, der - so behauptet er es - auf Rechnung von RTL in dieser Nobelherberge residiert hat. Ein Mann aus dem Volk eben: Atze Schröder - 3 Sterne Deluxe






Erstmals gab es einen Gastbeitrag in der Bücherkiste: Frank Hartung hat das Buch Interview mit einem DJ vorgestellt. Elvis, der  King of Rock'n'Roll, meldet sich aus dem Jenseits zu Wort und wird von einem DJ interviewt. Während des Gesprächs kommen sie auch auf Themen, die sich weitab von der Musik befinden: Klimawandel, Artensterben und politischer Rechtsruck sind nur einige davon. Frank Hartung hat die witzige, kurzweilige und kluge Art dieses Buches gut gefallen. Da ich das Buch selbst nicht kenne, vergebe ich dieses Mal keine Sterne.
Wer sich dafür interessiert, was Michael Lorenz, der selbst DJ ist, macht, kann hier mehr über ihn erfahren: www.rollingstock.info








Am letzten November-Freitag ging es um ein Buch, das Lesern gefällt, die Absurdes und Abseitiges lieben. Der Finger im Revolverlauf von Carlo Manzoni ist in der deutschen Ausgabe bereits vor 53 Jahren erschienen und - wie der Untertitel verrät - ein Super-Thriller. Der Privatdetektiv Chico und sein cleverer Hund Greg vollbringen ermittlerische Heldentaten, von denen normale Polizisten nur träumen können. Wenn die Reviere voll von Ermittlerduos ihres Schlages wären, wäre die Kriminalität längst ausgerottet. Vermutlich. Vielleicht. Ein bisschen. Man weiß es nicht. Wie auch immer: Die kriminalistische Arbeit kommt mit genug Bourbon im Glas erst so richtig in Schwung. Da ist dann auch das Stoppen einer Revolverkugel mit dem Zeigefinger im Lauf kein Problem mehr. Ein lustiges Buch, wofür ich mich bei Bettina Schnerr nochmals herzlich bedanke.

Aber: Funktioniert das eigentlich? Kann man den Abschuss einer Patrone stoppen, indem man einen Finger in den Lauf steckt? Dieser Frage sind die Mythbusters nachgegangen. Bei ihnen war es kein Revolver, sondern eine alte Flinte, aber ich will jetzt mal nicht so pingelig sein.








Das war es schon wieder. Schaut wieder rein bei den Rezensionen im Dezember.






Freitag, 2. Dezember 2016

# 78 - Nazis, Sport und unerwünschte Siege

16 Tage Ausnahmezustand für eine effektive Imagepflege

 

Der Publizist und Historiker Oliver Hilmes zieht in Berlin 1936 den Vorhang zurück und schaut hinter die Kulissen der bis dahin größten Olympischen Spiele. Doch dieses Buch ist weit davon entfernt, eine Sportenzyklopädie zu sein.

Die Olympischen Spiele als Leinwand für das übrige Leben in Berlin

 

Die spektakulär von den Nationalsozialisten inszenierte Sportveranstaltung liefert so etwas wie das Grundrauschen, vor dem sich das Leben an 16 Tagen im August 1936 abspielt. Das Regime ist bemüht, sich nach außen möglichst offen, friedlich und tolerant zu zeigen, aber zeitgleich mit den Wettkämpfen gibt es fernab des Olympiastadions verhaltene Protestaktionen und latente Ängste genauso wie überbordende Lebensfreude und Genuss. Zumindest für die, die es sich leisten können. 
Die Ausländer, die anlässlich der Sommerspiele in der Hauptstadt zu Gast waren, durften nichts merken von dem, was sich da nach und nach anbahnte: nichts vom Bau des KZ Sachsenhausen, nur 35 km von Berlin entfernt; nichts von der Verzweiflung zahlreicher Menschen angesichts dessen, was sich da anbahnte und die sich in einer ungewöhnlich hohen Zahl von Todesfällen äußerte; nichts von den Folgen des Erlasses "Zur Bekämpfung der Zigeunerplage", der zwei Wochen vor dem Beginn der Olympischen Spiele zur Zwangsumsiedlung von 600 Sinti und Roma auf ein Rieselfeld in Marzahn führte - einen Platz also, auf dem ständig Jauche abgekippt wurde.

Verweigerte Hitler den Handschlag?

 

Adolf Hitler wohnte nicht allen Wettkämpfen bei und wurde nach dem ersten Tag der Sommerspiele, als er allen deutschen Gewinnern mit Handschlag gratulierte, vom Präsidenten des IOC ermahnt: Entweder solle er alle oder keinen Athleten beglückwunschen. Hitler entschied sich dafür, niemandem mehr zu gratulieren. Ausgerechnet ein schwarzer US-Sportler, der Leichtathlet Jesse Owens, ging mit vier Goldmedaillen als erfolgreichster Sportler aus den Spielen hervor. An dieser Stelle gehen die Meinungen von Augenzeugen auseinander: Hat Hitler samt seiner Entourage absichtlich das Stadion verlassen, als sich Owens in Begleitung der Sekretärin des NOK und eines Dolmetschers seinem Stand näherte? Die Frage bleibt ungeklärt. Fest steht allerdings, dass Hitler von Owens Siegesserie nicht erbaut gewesen ist.

Deutschland musste dem IOC und den USA versprechen, jüdische Sportler nicht von den Wettkämpfen auszuschließen. Daraufhin wurden Qualifikatiosnergebnisse so manipuliert, dass Juden den Sprung in die deutschen Teams nicht schafften. Als Feigenblatt trat dann die "halbjüdische" Fechterin Helene Mayer an, um die ausländischen Gemüter zu beruhigen. 

Ein Lebensgefühl, das sich schon bald in Luft auflösen sollte

 

In Berlin 1936 kommen sie alle vor: Hilmes wirft Schlaglichter auf  Prominente wie den Verleger Ernst Rowohlt oder den amerikanischen Schriftsteller Thomas Wolfe, auf einfache Berliner,Reiche, Schwule, Künstler und Lebemänner. In seinem Buch bilden die Olympischen Spiele die Leinwand, aus der die einzelnen Menschen mit ihren Wünschen, Ängsten, Überzeugungen und Beziehungen zueinander hervortreten. So wird sehr deutlich, wie sich das Leben der Bürger und der Blick des Auslands auf das Deutsche Reich unter dem Einfluss des Nationalsozialismus allmählich veränderten.
Berlin 1936 lässt ein Stück deutsche Vergangenheit plastisch entstehen, ohne dabei wie ein Geschichtsbuch zu wirken. Es ist ein Buch, das eine besondere Atmosphäre einer Zeit einfängt, die sich nicht wiederholen möge.

Berlin 1936 wurde mir vom Bloggerportal zur Verfügung gestellt, wofür ich mich herzlich bedanke. Es ist im Siedler Verlag erschienen und kostet als Hardcover 19,99 € sowie als epub- oder Kindle-Edition 15,99 €.