Samstag, 29. Dezember 2018

# 179 - Der kinderliebe Herr Pfarrer

Die Farbe von Milch der britischen Schriftstellerin Nell Leyshon beginnt 1831, als Mary gerade fünfzehn geworden ist. Sie will erzählen, was ihr seit dem Frühling 1830 widerfahren ist. 

Mary ist die jüngste Tochter eines armen Bauernpaares. Auch ihr Großvater lebt im Haus. Er ist aber nach einem Unfall nicht mehr arbeitsfähig und fristet seine Tage im Apfelkeller.
Das Leben der vier Mädchen wird von den Aufgaben bestimmt, die auf dem kleinen Hof täglich erfüllt werden müssen. Der Vater ist enttäuscht, dass seine Frau keinen Sohn geboren hat und darüber, dass Mary mit einer Gehbehinderung zur Welt gekommen ist. Er treibt seine Töchter ununterbrochen zur Arbeit an und hat die Familie fest im Griff. Die Mutter fügt sich; auch dann, wenn eines ihrer Kinder unter der Gewalttätigkeit ihres Mannes zuleiden hat. Aber Mary hat sich mit all dem arrangiert, sie kennt nichts anderes.

Marys Leben ändert sich gründlich, als ihr Vater mit dem Pfarrer eine Abmachung trifft: Die Pfarrersfrau ist schwer krank, und Mary soll bei ihr sein und außerdem die Haushälterin unterstützen. Der Pfarrershaushalt ist für das Mädchen wie das Eintauchen in eine fremde Welt: Im Pfarrhaus gibt es viele Zimmer mit schönen Möbeln und etlichen Regeln, die sie nach und nach lernt. Um Ralph, den Sohn des Hauses, macht sie wenn möglich einen Bogen: Sie hat ihn nachts mit einer ihrer Schwestern beobachtet und hält ihn für einen Schürzenjäger - was stimmt. 
Mary fällt durch ihre spitze Zunge und ihren wachen Verstand auf. Nachdem seine Frau gestorben ist, unterrichtet sie der Pfarrer deshalb im Lesen und Schreiben. Doch sie merkt schnell, dass er dafür eine Gegenleistung erwartet. Das eigentliche Drama fängt mit dieser Erkenntnis erst an.

Nell Leyshon lässt Mary in ihrer einfachen und direkten Sprache erzählen. Zu Beginn ist der Mangel an Satzzeichen irritierend, aber je mehr die Handlung voranschreitet, umso deutlicher wird der Grund dafür. 
Der Buchtitel Die Farbe von Milch bezieht sich auf Marys Haare; sie selbst bezeichnet sie so.
Der Zeitpunkt der Handlung fällt in die Hochphase der britischen Industrialisierung und der damit verbundenen gesellschaftlichen Umwälzungen, in deren Folge die Einwohnerzahl Großbritanniens rasant zunahm. Standesunterschiede waren in dieser Zeit wie in Stein gemeißelt: Was eine Respektsperson wie der Pfarrer sagte, zählte. Tat er Unrecht, wurde der Mantel des Schweigens darübergelegt. Mary hat nicht die Möglichkeit, der bedrohlichen Situation zu entkommen, weil ihre Familie das Geld braucht, was sie beim Pfarrer verdient. Doch alles hat einmal ein Ende.


Lesen?

 

Ja. Gerade die einfache Sprache macht Die Farbe von Milch zu einem authentischen Roman und lässt das Leben der bitterarmen Landbevölkerung nahe heranrücken.
Das Buch wurde mir von Netgalley zur Verfügung gestellt. Es kostet gebunden 18 Euro, als Taschenbuch 10 Euro, als Audio-CD 13,45 Euro und als epub- oder Kindle-Edition 16,99 Euro.

Freitag, 21. Dezember 2018

# 178 - Der Beginn einer neuen Thriller-Reihe

Martin Krist ist den regelmäßigen Besuchern dieses Blogs längst gut bekannt; am Ende dieses Textes werde ich Euch die Rezensionen verlinken, die ich bisher über Bücher von ihm geschrieben habe.

Nun also etwas Neues. Martin Krist hat mit Freak City eine neue in New York spielende Thriller-Serie gestartet, an die man durchaus hohe Erwartungen knüpfen kann. Und die habe ich. Mitte November 2018 ist nun der erste Teil erschienen: Hexenkessel. Die Hauptfigur ist Pearl, ein Mann mit indianischen Wurzeln, dessen Vergangenheit im Nebel liegt. An seinen Narben, die er auch im Gesicht hat, ist jedoch abzulesen, dass in seinem Leben nicht immer alles eitel Sonnenschein war. Pearl hat eine Affäre mit der Frau eines bekannten TV-Moderators und lässt sich engagieren, wenn es darum geht, Schwerkriminelle oder deren Opfer aufzuspüren. Das Wort "Privatdetektiv" würde auf ihn aber nicht passen: Es ist zu seriös, um ihn zu beschreiben. Was andere immer wieder zu spüren bekommen, ist seine schnell aufschäumende Wut, die sich in brutalen Handgreiflichkeiten entlädt.

Pearl wird von Dagobert Trump, einem Musical-Regisseur angeheuert, der seit Tagen seine Hauptdarstellerin Francine Sharpio vermisst. Nach seiner Darstellung hatte die Künstlerin eine große Karriere vor sich, ein Selbstmord scheidet deshalb aus. Francines Gatte macht sich indessen keine großen Gedanken um den Verbleib seiner Frau.

Zeitgleich hat sich die geschiedene Mutter Patsy von ihrem Freund Milo dazu anstiften lassen, ihn bei einem völlig ungefährlichen Einbruch zu unterstützen. Milo hat schon ein paar Jahre Knast hinter sich, aber Patsy versprochen, ein ehrliches Leben zu führen - nach diesem Bruch.
Patsy macht nur dieses eine Mal mit, um mit ihrer Tochter aus dem Dunstkreis ihres Ex-Mannes verschwinden und mit dem Mädchen ein neues Leben anfangen zu können. Man ahnt es bereits: Der Plan geht gehörig in die Hose. Sie werden auf frischer Tat von Ivo Weitzman, dem Hauseigentümer,  überrascht, der gleich mit der Flinte auf sie zielt. Doch die Drei sind nicht allein: Fast wie aus dem Nichts taucht ein Fremder auf, der eine Unachtsamkeit Weitzmans nutzt, um ihn niederzustechen. Auf ihrer Flucht vor dem Mörder finden Patsy und Milo im Schlafzimmer eine übel zugerichtete Tote, der die Augäpfel entfernt wurden. Die beiden sollen nicht die einzigen Mordopfer dieses Thrillers bleiben.

Die zwei Handlungsstränge bewegen sich langsam aufeinander zu, der Leser erfährt jedoch erst zum Schluss, ob es zwischen ihnen eine Verbindung gibt. Durch den Thriller zieht sich noch ein weiteres Thema, das vermutlich auch im nächsten Teil der Serie weitergeführt wird: Pearl hat mehr oder weniger freiwilligen Kontakt zu einem Polizisten, dessen herausragendste Eigenschaft seine Korrumpierbarkeit ist. 

Wie war's?

 

Hexenkessel hat meine Erwartungen an Handlung und Spannung voll erfüllt. Wer Thriller mag, die ihre Leser durchgehend bei der Stange halten, sollte diese Serie im Auge behalten. Wie es mit ihr weitergeht, erfahrt ihr hier.

Hexenkessel ist bei R&K erschienen und kostet als E-Book 0,99 € sowie als Taschenbuch 9,99 €. 

Über diese Thriller von Martin Krist habe ich bereits in der Bücherkiste geschrieben:
 
Böses Kind
Brandstifter
Drecksspiel
Kalte Haut 
Stille Schwester

Samstag, 15. Dezember 2018

# 177 - Eine Tote im Dachkoffer

Wer die Bücherkiste schon ein bisschen kennt, hat möglicherweise die Rezension des Buches Alte Feinde der schweizerischen Krimi-Autorin Petra Ivanov gelesen. Dieser Titel war der bislang letzte der Flint-und-Cavalli-Reihe. 
Heute geht es um den Krimi Fremde Hände, mit dem Ivanov 2005 die Serie um die Zürcher Bezirksanwältin Regina Flint und den Kriminalpolizisten Bruno Cavalli begonnen hat.

Eine Geschichte von Liebe und zerplatzten Träumen

 

In einer Zürcher Müllverbrennungsanlage wird die Leiche einer jungen Frau gefunden. Sie liegt in einem Dachgepäckträger, der mit Pistolenschaum fest verschlossen ist. Die Tote scheint von niemandem vermisst zu werden. Die Ermittlungen ergeben, dass hier ein skrupellos vorgehender Frauenhändlerring seine Hände im Spiel hat, der seine "Ware" aus Osteuropa herbeischafft. Ivanov beschäftigt sich mit den Umständen, unter denen die sehr jungen Frauen auf die Versprechen der Kriminellen hereinfallen und ihr Leben im Zürcher Rotlichtmilieu. Das Konzept derjenigen, die mit diesen Prostituierten ihr Geld verdienen, basiert in erster Linie auf Gnadenlosigkeit.
Als die Ermittler einen Verdächtigen aufspüren und festnehmen, wird dieser aus einem fahrenden Auto heraus erschossen. 

Auch Regina Flint hat Grund, um ihr Leben zu fürchten: Ein Autofahrer versucht, sie zu überfahren. Da die Umstände für einen Anschlag spechen, organisiert Cavalli ihre Bewachung. Die beiden haben außerdem den Eindruck, dass der ihnen vorgesetzte Staatsanwalt etwas zu verheimlichen hat. Sollte er mehr über die mafiösen Strukturen der örtlichen Bordellszene wissen oder gar beteiligt sein?

Der Fall verlangt der Polizei einiges ab, es gibt mehrere Ermittlungspannen. Eine Zeugin hat die Tote zuvor in Begleitung einer weiteren jungen Frau gesehen. Doch die ist wie vom Erdboden verschluckt. Das Ermittlerteam sucht nach ihr wie nach der Nadel im Heuhaufen, weil es vermutet, dass sie wichtige Informationen beisteuern kann, die zu den Hintermännern führen.

Flint muss sich jedoch nicht nur mit diesem Fall, sondern auch mit einem anderen beschäftigen: Wieder einmal hat eine Frau ihren Mann wegen häuslicher Gewalt angezeigt, will ihre Anzeige nun aber wieder zurückziehen. Die Bezirksanwältin ist fest von der Gewalttätigkeit des Mannes überzeugt. Die Untersuchungen bringen allerdings noch mehr Erkenntnisse über ihn ans Licht.

Auch Privates kommt nicht zu kurz: Es wird deutlich, dass Flint und Cavalli eine problematische Beziehung hinter sich haben, sich aber immer noch stark zueinander hingezogen fühlen. Das gibt der Handlung noch mehr Würze, ohne dass sie in Gefühlsduselei abgleitet.

Wie war's?

 

Fremde Hände hat alles, was ein guter Krimi haben muss: Das Buch ist spannend und schlüssig aufgebaut. Ivanov wendet sich sensibel dem traurigen Schicksal vieler osteuropäischer Frauen zu, die mit oder ohne Gewalt und mit fadenscheinigen Versprechen aus ihrer Heimat nach Westeuropa gelockt werden, um dort brutal missbraucht zu werden. Unbedingte Empfehlung für Fremde Hände.

Fremde Hände ist in der mir vorliegenden Ausgabe im Unionsverlag erschienen und kostet als Taschenbuch 13,95 Euro. Als epub- oder Kindle-Edition kostet es 12,99 Euro.

 

Freitag, 7. Dezember 2018

# 176 - Eine Frau will hoch hinaus: Europas erste Flugbegleiterin

Mit Nelly Diener - Engel der Lüfte wirft die Autorin Pascale Marder einen Blick zurück auf das Leben der Frau, die den ihr nachfolgenden Frauen den Weg in den Beruf der Flugbegleiterin ebnete.

Die Schweizerin Nelly Diener war 22, als sie ihren Mut zusammennahm und sich bei der damals noch jungen Fluggesellschaft Swissair um eine Stelle als Flugbegleiterin bewarb. Im Gespräch mit dem Direktor verschwieg sie alles, von dem sie vermutete, dass es sie in einem ungünstigen Licht erscheinen lassen könnte: ihren eigentlichen Vornamen Hedwig, der ihr zu altbacken war und dem sie ihren zweiten Vornamen Nelly vorzog; die fünf Halbgeschwister und nicht zuletzt den damals noch anrüchigen Umstand, dass ihre Eltern geschieden waren.

Pascale Marder erzählt die Geschichte von Nelly Diener aus deren Sicht und und aus der eines Reporters der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) jeweils in der Ich-Form und hält sich dabei an die historischen Fakten. Als die junge Frau 1934 als erste Flugbegleiterin Europas berufliches Neuland betrat, war das eine Sensation. Als Vorbild diente die amerikanische Krankenschwester Ellen Church, die bereits vier Jahre zuvor als weltweit erste im Service tätige Flugbegleiterin für Boeing das neue Berufsbild einführte.
Die (kurze) Geschichte von Nelly Diener ist eng mit der Geschichte des europäischen Linienflugs verknüpft und zeigt, unter welchen Bedingungen Crew und Pasagiere die Strecken zurücklegten. Diener war nicht nur dazu da, auf der Strecke Zürich - Berlin die Fluggäste zu beruhigen, wenn das Wetter mal nicht so mitspielte, sondern hat auch auf eigene Rechnung selbst geschmierte Brote und Cognac serviert. Sie tat das so charmant und umsichtig, dass die Piloten schon nach kurzer Zeit ihre Meinung, eine Frau habe an Bord eines Flugzeugs nichts zu suchen, revidierten.
Diener begegnet auf ihren Flügen vielen Prominenten und fand immer den richtigen Ton. Schon nach kurzer Zeit war sie selbst so bekannt, dass sie immer ein paar Autorammkarten bei sich trug, die sie auf Wunsch gern signierte.

Nelly Diener wurde von ihren Chefs ein langes Wochenende in Berlin versprochen, sobald sie ihre ersten 100.000 Flugkilometer hinter sich gebracht hatte. Wegen des engen Flugplans kannte sie bislang von der deutschen Hauptstadt nur den Flughafen. Für diese Tage und auch für künftige Abwesenheiten wählte sie selbst ihre Vertreterin aus. Sie konnte nicht ahnen, dass es zu dem Aufenthalt in Berlin nicht mehr kommen sollte und ihre Vertreterin schon bald ihre Nachfolgerin werden sollte.

Wie war's?

 

Pascale Marder hat mit Nelly Diener - Engel der Lüfte nicht nur einen Einblick in das Leben von Nelly Diener, sondern auch in die Anfänge der Verkehrsluftfahrt und nicht zuletzt in die in den 1930-er Jahren sehr engen Moralvorstellungen der Gesellschaft gegeben. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was es für Diener bedeutet haben mag, sich in dieser Umgebung zu behaupten.

Nelly Diener - Engel der Lüfte ist im bilgerverlag Zürich erschienen und kostet als gebundene Ausgabe mit Lesebändchen 20,-- Euro.

Freitag, 30. November 2018

# 175 - Das war 1949 der Neuanfang in Deutschland

Die ersten hundert Tage - das ist der Titel des neuesten Buches von Wolfgang Brenner, der bereits beschreibt, was den Leser erwartet: Der Autor schildert anhand von verschiedenen Episoden, wie es den Deutschen unter den Alliierten und in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) in der ersten Zeit nach den Gründungen der BRD und der DDR ergangen ist. Die vierzehn von ihm vorgestellten Geschichten sind allesamt der breiten Öffentlichkeit praktisch unbekannt.

Von Zoodirektoren, einer gigantischen Explosion und Damenringkämpfen

 

Brenner spürt den kleinen und großen Geschichten des deutschen Alltags in der Zeit der Staatengründungen hinterher und berichtet über Intrigen, verheerende Fahrlässigkeiten oder politische Scharmützel. Da ist zum Beispiel das französische Munitionsdepot im Eifelort Prüm, das sich in einem Bergbunker befand. Kein Deutscher wusste so ganz genau, was genau dort eigentlich gelagert wurde, aber die Einwohner hatten bei dem Gedanken an eine unbekannte Sprengstoffmenge in ihrer direkten Nachbarschaft ein ungutes Gefühl. Zu Recht, wie sich dann herausstellen sollte: Am 15. Juli 1949 explodierten 500 Tonnen Munition mit einer derartigen Wucht, dass sich die Bergkuppe für einen Moment hob. Prüm, das vier Jahre lang aufgebaut worden war, lag in Schutt und Asche. Dass es nur zwölf Tote gab, war dem Einsatz des Landrats und des Gendarmerie-Hauptmanns zu verdanken. 

Auch die Frage, warum sich Schauspielerinnen und Operettensängerinnen als Ringkämpferinnen verdingten, wird beantwortet. Außerdem wird auch geklärt, warum ausgerechnet im Frankfurter Zoo, den damals Bernhard Grzimek leitete, so viele Tiere einen zunächst rätselhaften Tod starben. Gab es einen Zusammenhang zu seiner Vergangenheit als NSDAP-Mitglied? Brenner schildert diese und die weiteren Begebenheiten anschaulich, interessant und oft mit einem Augenzwinkern. 

Schwieriger wird es allerdings in den Abschnitten, die sich den Ereignissen in Berlin widmen und bei denen es um politische Scharmützel zwischen den Alliierten im West- und den Sowjets im Ostteil der Stadt geht. Die Tragweite, die manche Entscheidungen oder Vorfälle auf der einen oder anderen Seite offenbar gehabt haben, hat sich mir nicht durchgehend erschlossen. Manches hätte sicher etwas kürzer ausfallen dürfen, anderes etwas konkreter. Auch ein Personenverzeichnis wäre schön gewesen; viele Namen sagten mir noch etwas, andere waren mir völlig unbekannt. Ich vermute, dass die Zahl der Unbekannten bei jüngeren Lesern noch deutlich höher ist.

Die ersten hundert Tage wirft ein Schlaglicht auf den Neuanfang der beiden deutschen Staaten und erklärt, wie die Deutschen damals "tickten" und wer wirklich das Sagen hatte. Brenners Buch macht auch deutlich, dass sich die Deutschen kaum für politische Fragen interessierten. Das eigene Überleben war für die meisten weit wichtiger.

Die ersten hundert Tage ist im Herder Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 24 Euro sowie als epub- oder Kindle-Edition 16,99 Euro. 

Sonntag, 18. November 2018

Statt einer Rezension: So war's auf der Buchlust 2018



Kennt Ihr die Buchlust in Hannover? Das ist eine kleine Buchmesse, die jedes Jahr im Künstlerhaus in Hannover stattfindet und auf der sich unabhängige Verlage präsentieren. In diesem Jahr hatte die Buchlust ihr 25-jähriges Jubiläum, und passend dazu waren 25 Verlage vor Ort.

Ich war dieses und letztes Jahr auf der Frankfurter Buchmesse und 2017 auf der Leipziger Buchmesse. Auch, wenn die unabhängigen Verlage dort in einem separaten Bereich untergebracht sind, stehen sie in unmittelbarer Konkurrenz zu den großen Publikumsverlagen. Die meisten Besucher steuern zunächst deren Stände an und gucken bei den kleinen Unabhängigen nur dann vorbei, wenn sie noch ein bisschen Zeit übrig haben. Das ist sehr schade, weil sich unabhängige Verlage gern um Buchprojekte abseits des Mainstreams kümmern.

Dieser Konkurrenz müssen sich die Unabhängigen auf der Buchlust nicht aussetzen. Dort kommt man mit kompetentem Standpersonal ins Gespräch und kann in Ruhe stöbern.
Immer wieder habe ich mein Smartphone gezückt und Fotos der Bücher gemacht, die mich interessiert haben. Ich werde versuchen, sie Euch nach und nach vorzustellen. Hier ist meine "Ausbeute":


Mit diesem Buch liebäugele ich schon eine ganze Weile. Spätestens, seit diese Graphic Novel zu den zehn Gewinnern der Hotlist 2017 gehörte, war mein Interesse geweckt.













Was kann man anderes über dieses Buch sagen als "Toll!", wenn man sich diese Bilder ansieht?








Dieses Foto ist leider etwas verwackelt, aber es geht in diesem Buch um einen Prozess gegen eine Ärztin, der über Jahre hinweg den Raum Hannover beschäftigt hat. Dr. Mechthild Bach war viele Jahre niedergelassene Internistin und hatte Belegbetten in einem Krankenhaus bei Hannover. Eines Tages wurde sie von ehemaligem Krankenhauspersonal angezeigt: Sie sollte für den Tod von mehreren Patienten verantwortlich sein. Sie wurde wegen Mordes angeklagt und hat immer gesagt, sie würde auf keinen Fall eine Haft antreten. Das hat sie auch nicht, da sie ihrem Leben ein Ende setzte, bevor es soweit kommen  konnte. Alle, die sie als Patienten, Angehörige oder Freunde kannten, waren sich sicher, dass an den Vorwürfen gegen sie nichts dran war. Sie wurde durchgehend als kompetent und engagiert bezeichnet. Ein Gerichtsverfahren, das es wirklich in sich hatte.

Die weiteren Favoriten, nachdem ich ein bisschen in ihnen gelesen hatte:














  





Bei der nächsten Buchlust bin ich sicher wieder dabei.

Hier habe ich weitere Eindrücke von dieser Buchmesse geschildert, die die Atmosphäre dort beschreiben und auch erzählt, was mir besonders aufgefallen ist.



Freitag, 9. November 2018

# 174 - Wie starb der Irokesen-Chief?

Mit seinem Buch Ein Irokese am Genfersee bettet Willi Wottreng eine wahre Geschichte in einen fiktiven Rahmen. Die Zürcher Staatsanwältin Ursula Haldimann begleitet eine Hausdurchsuchung bei einem Antiquitätenhändler, der der Hehlerei verdächtigt wird. Der Verdacht stellt sich als falsch heraus, aber zu den beschlagnahmten Gegenständen gehört auch ein Fotoalbum, in dem Haldimann ein ungewöhnliches Bild findet: Ein Irokesen-Chief sitzt mit Kopfschmuck und traditioneller Kleidung in einer bürgerlichen Stube an einem Tisch. Um ihn herum befinden sich sitzend oder stehend fünf Frauen und Männer. 

Der Antiquitätenhändler weiß, was es damit auf sich hat: Der Mann mit dem Federschmuck ist Deskaheh, der im Auftrag der "Six Nations", der sechs kanadischen Irokesenstämme, 1923 nach Genf reiste, um dort vor dem Völkerbund ihr dringliches Anliegen vorzutragen und um Unterstützung zu bitten. Die im Gebiet des "Grand River" in der Provinz Ontario lebenden Irokesen erkannten den kanadischen Staat nicht an, sondern sahen sich als eigenes unabhängiges Volk, das die Kanadier als ihre Nachbarn tolerierte. Das führte zu Konflikten mit dem kanadischen Staat, die sich zu Beginn des 20. Jahrhuderts deutlich verschärften. Das Anliegen der Irokesen führten diese darauf zurück, dass König George III. 1784 Ländereien am Grand River erworben und die Six Nations dazu eingeladen hatte, dorthin auszuwandern; im Gegenzug wurde ihnen ihre Unabhängigkeit zugesichert. Das Foto wurde im Haus von Deskahehs Gastgeber in Zürich aufgenommen.

Deskaheh war zäh und ließ sich durch Misserfolge von seinem Vorhaben nicht abbringen. Auch die schlechten Nachrichten, die ihn aus seiner Heimat erreichten, brachten ihn nicht dazu, von seinem Ziel abzuweichen: Unter den Irokesen gab es Intrigen, und die Indianerbehörde machte ihnen das Leben schwer, um sie zum Aufgeben zu bringen. Deskahehs Kampf für die Six Nations trug Züge des Kampfes von Don Quijote gegen die Windmühlenflügel.

Von Deskaheh ist eine Rede aus dem März 1925 überliefert, die er drei Monate vor seinem Tod nach seiner Rückkehr aus der Schweiz in den USA im Radio gehalten hat:
 "My skin is not red but that is what my people are called by others. My skin is brown,
light brown, but our cheeks have a little flush and that is why we are called red skins.
We don’t mind that. There is no difference between us, under the skins, that any
expert with a carving knife has ever discovered."
Deskahehs Tod 1925 gibt Haldimann nun Anlass zu Spekulationen: Starb der Chief wirklich eines natürlichen Todes oder wurde er ermordet?

Wie war's?

Ein Irokese am Genfersee greift historisch belegte Tatsachen auf, von denen ich bislang nichts gewusst hatte. Wottreng hat die Geschichte um Deskaheh und den Sprung in die Gegenwart zur Staatsanwältin Haldimann zu einer interessanten Handlung verwoben. Der einzige Makel an diesem lesenswerten Buch ist, dass die Frage nach der wahren Todesursache des Chiefs leider nur kurz angerissen wird. 

Ein Irokese am Genfersee  ist im Bilgerverlag Zürich in einer gebundenen Ausgabe erschienen und kostet 24 Euro.

Samstag, 3. November 2018

# 173 - Ein Kind wird gefunden, das niemand vermisst

Die Geschichte vom alten Kind ist das erste Buch der bekannten und mit mehreren Preisen ausgezeichneten Autorin Jenny Erpenbeck und mein erstes, das ich von ihr gelesen habe. Das Kuriose: Obwohl es eine Handlung, eine Spannungskurve oder ein anderes stilistisches Merkmal, das einen Roman normalerweise ausmacht, nicht gibt, übt es so etwas wie eine Anziehungskraft aus.

Wenig Handlung, viel Atmosphäre

 

Eines Nachts wird ein Mädchen auf der Straße gefunden. Außer einem leeren Blecheimer hat es nichts bei sich. Man erfährt nur, dass es vierzehn Jahre alt ist, sonst nichts. Da das Mädchen nicht als vermisst gemeldet wurde und sich auch keine Angehörigen ausfindig machen lassen, wird es in ein Heim gegeben. Dort wird ihm alles, was es hat, weggenommen, und es wird neu ausgestattet. Eine deutliche Zäsur, die den alten vom neuen Lebensabschnitt trennt.

Das namenlose Mädchen ist größer als alle anderen Gleichaltrigen im Heim und in der Schule, aber auf eine seltsame Art kraftlos. Seine Statur ist konturlos und schwammig, sein Gesicht nichtssagend und es spricht so gut wie nie. Die saloppe Redewendung "Wenn sie reinkommt, denkt man, jemand sei hinausgegangen" passt hier genau. Das Mädchen schwimmt mit den Mitbewohnern und -schülern mit und ist froh, auf der untersten Stufe der Gruppenhierarchie zu stehen: Ist man dort, muss man um nichts kämpfen. Doch bald merken die Gleichaltrigen, dass sein Verhalten einen Vorteil hat: Das, was dem Mädchen erzählt wird, versinkt in ihm wie in einem schwarzen Loch und es erfährt garantiert niemand anders davon; das, womit man es beauftragt, erledigt es, ohne zu protestieren oder Fragen zu stellen.
Ihre Unscheinbarkeit und gewissermaßen Unsichtbarkeit ermöglichen es dem Mädchen, Dinge zu sehen und zu erfahren, die allen anderen verborgen bleiben. Aber auch Beobachtungen, die bei anderen Menschen dazu geführt hätten, dass sie sie wenigstens einem anderen Menschen anvertraut hätten, sinken folgenlos in ihr Bewusstsein hinab.

Die Kraftlosigkeit und Müdigkeit des Mädchens nehmen immer stärker von ihm Besitz. Eines Morgens sind sie so übermächtig, dass sie nicht mehr aufstehen kann. Wenn man in einem Leben, das derart von Schwäche und Stille geprägt ist wie das dieses Mädchens, überhaupt von einem Wendepunkt sprechen kann, dann ist er jetzt gekommen.

Wie war's?

 

Geschichte vom alten Kind wurde nach seinem Erscheinen 1999 hoch gelobt. Jenny Erpenbeck ist mit diesem Buch ein Roman gelungen, der sich von den meisten abhebt, die mit einer nachvollziehbaren Handlung aufwarten können. Wer Lust hat, sich auf eine ungewöhnliche "Schreibe" einzulassen, der sollte dieses Buch lesen.
Geschichte vom alten Kind ist in der mir vorliegenden Taschenbuchausgabe 2001 bei btb zum Preis von 7,99 Euro erschienen. Als epub- oder Kindle-Edition kostet es 6,99 Euro.


Samstag, 27. Oktober 2018

# 172 - Der amerikanische Bürgerkrieg kehrt zurück

Alte Feinde ist der achte Fall der schweizerischen Krimi-Autorin Petra Ivanov, in dem die Zürcher Staatsanwältin Regina Flint und der mit ihr liierte Kriminalpolizist Bruno Cavalli in gefährliche Ermittlungen verwickelt werden. Es ist allerdings das erste Mal, dass ihre Nachforschungen bis ins 19. Jahrhundert, in die Zeit des Sezessionskrieges, zurückreichen. Was für die Handlung wesentlich ist: Cavalli ist US-Bürger und indianischer Abstammung.

Wenn sich Wege überschneiden

 

Cavalli wurde vom FBI angefordert. Er soll undercover in einem Cherokee-Reservat dazu beitragen, die Ermittlungen in einer Mordserie voranzubringen, bei der Menschen durch Pfeilgift, das mit einem Blasrohr auf sie geschossen wird, getötet werden. 
Während seiner Abwesenheit wird in einem Zürcher Wohnhaus die Leiche von Albert Gradwohl gefunden. Die Ermittlungen ergeben, dass er mit einer historischen Waffe, die aus der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs stammt, geradezu hingerichtet wurde. Der Tote ist ein Nachfahre des berüchtigten Lagerkommandanten Henry Wirz, der seinerzeit wegen der furchtbaren Zustände, unter denen die Gefangenen unter seiner Verantwortung leben mussten, hingerichtet wurde. Aus dem direkten Umfeld des Opfers kommt jedoch niemand als Täter infrage. Regina Flint erkennt, dass sie in der Schweiz mit ihren Nachforschungen nicht voran kommt und reist in die USA, um den Faden dort wieder aufzunehmen. Damit verbindet sie auch einen privaten Hintergedanken: Sie hat von Cavalli seit Monaten nichts mehr gehört und hofft, ihn zu finden. Sie hat zunächst keine Ahnung, dass sich der Vater ihrer Tochter Lily in tödlicher Gefahr befindet: Ein mit dem FBI abgesprochener Einsatz in einem Lokal, bei dem dem Blasrohr-Mörder eine Falle gestellt werden sollte, ging gründlich schief. Als der Killer vor Ort seinen nächsten Mord an dem Lockvogel Emma verüben will, ist entgegen der Absprachen niemand vom FBI vor Ort. Schwer verletzt kann Cavalli mit Emma fliehen und die beiden finden bei Emmas Cousin Buzz Unterschlupf. Buzz, ein Ex-Soldat, lebt völlig zurückgezogen und abgeschieden und wird sich im weiteren Verlauf der Handlung als loyaler und sehr hilfreicher Freund herausstellen. Cavalli ahnt, dass es beim FBI einen Maulwurf geben muss. Der Ermittler kommt außerdem zu dem Schluss, dass alle bisherigen Opfer des Blasrohr-Mörders in irgendeinem Verhältnis zu ihm gestanden haben und der Killer ihm mit jedem weiteren Toten ein Stück näher gekommen ist. Er vermutet einen Rachefeldzug, der seine gesamte Familie in Gefahr bringt.

Weil sich Flint im Rahmen ihrer Ermittlungen auch im Reservat aufgehalten hat, erfährt Cavalli von ihrer Anwesenheit. Gemeinsam führen sie die Ermittlungen fort und wissen schon bald nicht mehr, wem sie noch trauen können. Letztlich bringen sie ihre persönlichen Eigenschaften - der klare Verstand von Flint sowie die dosierte Risikobereitschaft und die hohe Sensibilität Cavallis - in ihren Ermittlungen einen großen Schritt nach vorn. Doch auch sie erkennen zu spät die Gefahr einer großen Eskalation.

Wie war's?

 

In Alte Feinde greift Petra Ivanov historische Fakten auf, die sie selbst recherchiert hat. So erfährt man nebenbei eine Menge über den Sezessionskrieg. Dem Leser ist es unbedingt zu empfehlen, die am Beginn der Kapitel genannten Datumsangaben im Auge zu behalten, um den roten Faden nicht zu verlieren. 
Bis zum Zeitpunkt des Aufeinanderstreffens von Flint und Cavalli ist das Buch interessant, ab dann wird es erst richtig spannend. Ich habe keinen der sieben vorangegangenen Bände gelesen, was an der einen oder anderen Stelle jeodch hilfreich gewesen wäre. Deshalb war die Erkenntnis, wer letztlich hinter den Morden steckt, für mich als "Quereinsteigerin" nicht schlüssig. 
Die von der Autorin erzeugte Atmosphäre dient nicht nur der Spannung, sondern auch dem Verständnis für die Gefühle und Handlungen von Flint und Cavalli. Ein Krimi, den ich mit den genannten Einschränkungen empfehlen kann.

Alte Feinde ist im Unionsverlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 26 Euro sowie als epub- oder Kindle-Edition 22,99 Euro. Ich bedanke mich bei der Agentur Literaturtest, die mir das Buch zur Verfügung gestellt hat. 

Samstag, 20. Oktober 2018

# 171 - Drogenschwemme am Atlantik

Die befreundeten Studenten Matthieu und Romain aus Paris machen Urlaub in Biarritz. Eine Woche surfen soll sie vom stressigen Uni-Alltag ablenken. Die auf den ersten Seiten von So kommt die Nacht der französischen Autorin Estelle Surbranche noch heitere und entspannte Grundstimmung wird schon wenig später ins Gegenteil kippen. 

Hey, wir sind reich!

 
Zufällig finden die beiden jungen Männer an den Klippen zwei mit schwarzem Plastik verschweißte Päckchen. Ihnen ist sofort klar, worum es sich handeln muss: Kurz zuvor machte die Nachricht die Runde, dass etwas weiter südlich etliche Päckchen mit über 84 Kilogramm hochreinem Kokain an den Strand geschwemmt worden waren, jedes einzelne sieben Kilogramm schwer. Keine Frage, worum es sich bei diesen Quadern hier handelte. Was sie nicht wissen: Das Koks stammt von einer größeren Fracht, die zwei Kuriere vor der spanischen Küste über Bord geworfen hatten, als sich ihrem Schiff Boote und Hubschrauber der Guardia Civil näherten. Zu dem Zeitpunkt, als die beiden das Koks am Strand finden, weiß die französische Polizei bereits von 1,5 Tonnen angespültem Kokain. Dazu kommt eine unbekannte Menge, die noch nicht gefunden worden ist oder die die Finder behalten haben. 
Matthieu und Romain beschließen spontan, die Drogenpakete nach Paris mitzunehmen und den Inhalt nach und nach zu verkaufen. Der Koks und die damit verbundenen sprudelnden Einnahmen öffnen ihnen die Türen zu einem "besseren" Leben, in dem ständig inmitten von reichen und verwöhnten jungen Leuten Drogenpartys gefeiert werden.

Die Jagd beginnt


Der ungewöhnliche Drogenzufluss bewirkt, dass auch die Zahl der Junkies, die an einer Überdosis sterben, in die Höhe schnellt. Und: Der Preis für Koks folgt dem Prinzip von Angebot und Nachfrage, er fällt. Der Preisverfall und der Umstand, dass sich der serbische Drogenboss Radzik, dem die Ware gehört hat, nicht so einfach etwas wegnehmen lässt, rufen die junge Nathalie auf den Plan. Die Serbin arbeitet für Radzik und ist an Kaltblütigkeit und Skrupellosigkeit kaum zu überbieten. Sie macht sich auf die Spur der verschwundenen Drogen und löscht nach und nach diejenigen aus, die mit ihnen in irgendeiner Weise zu tun hatten. Ihr Markenzeichen am Ende jeder tödlichen Folterung: die ausgestochenen Augen ihrer Opfer. Romain und Matthieu sind lange völlig ahnungslos, in welcher tödlichen Gefahr sie sich befinden. Auch in ihrer Freundschaft bahnt sich eine grundlegende Veränderung an, die sie noch kurz zuvor wohl nicht für möglich gehalten hätten.

Selbstverständlich greift auch die Polizei in das Geschehen ein. Die Drogenfahnderin Gabrielle ahnt, dass hinter der Häufung der Drogentoten und den Koksfunden ein Zusammenhang besteht. Um ihren seit einer Ermittlungspanne ramponierten Ruf wieder herzustellen, arbeitet sie bis zur Erschöpfung, um die zunächst undurchsichtigen Zusammenhänge zu entwirren.


Wie war's?


So kam die Nacht ist mit der schnöden Bezeichnung "Kriminalroman", die sich auf dem Cover findet, völlig falsch beschrieben. Denn: Wo ein Thriller drin ist, soll auch "Thriller" drauf stehen. Den Leser erwarten: Spannung bis zum Punkt auf der letzten Seite; dazu eine Reihe von Szenen, in denen die Brutalität so plastisch geschildert wird, dass man sich kaum ausmalen mag, wie sie "in echt" wäre. Sie wird allerdings nicht als billiges Spannungsvehikel missbraucht, sondern verdeutlicht die Nöte und Stimmungslagen der Handelnden. Deren Gnadenlosigkeit ist ein Gradmesser für ihre Unmenschlichkeit, die bei manchen von Anfang an sehr ausgeprägt war, die andere Figuren jedoch erst nach und nach entwickeln.

So kam die Nacht ist im Polar Verlag erschienen und kostet als Taschenbuch 16 Euro sowie als epub- oder Kindle-Ausgabe 10,99 Euro. 

Sonntag, 14. Oktober 2018

Statt einer Rezension: Ein Buchmessetag

An diesem Woche stelle ich Euch nicht nur ein Buch, sondern einen Blick auf sehr viele Bücher vor. Ich war mit meinem Mann auf der Frankfurter Buchmesse. Dieses Mal nur einen Tag, aber das ist immer noch besser als nichts, oder?

Ich habe den Eindruck, dass die Messe in jedem Jahr
ein bisschen politischer wird. In diesem Jahr stehen die Menschenrechte im Fokus. Vor 70 Jahren wurden sie von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in einer aus 30 Artikeln bestehenden Charta verabschiedet. Momentan hat man vielerorts allerdings den Eindruck, die Menschenrechte haben sich aus dem einen oder anderen Land verabschiedet. Die Frankfurter Buchmesse möchte für 2018 ein Zeichen setzen und die Menschenrechte mehr ins Bewusstsein bringen. Deshalb hat sie mit mehreren Kooperationspartnern (ZDF, ARTE, DER SPIEGEL, Börsenverein des deutschen Buchhandels) das Aktionsbündnis "I'm on the same page" ins Leben gerufen, das von den Vereinten Nationen und Amnesty International unterstützt wird. Die Kampagne wendet sich an alle, die in irgendeiner Form mit Büchern zu tun haben und bittet darum, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu unterstützen und "ein Zeichen für Respekt, kulturelle Verständigung und für eine freie und vielfältige Welt" zu setzen.

Da ich mich für das, was unabhängige Verlage und Selfpublisher herausbringen, interessiere, musste ich an deren Ständen vorbeischauen. Wie immer "sprangen" mich viele Bücher an. Ich glaube, ich kann gar nicht so lange leben, wie ich Zeit zum Lesen der Bücher bräuchte, die mich interessieren. Aber ich habe mich auch gefreut, mich mit Britta Kuhlmann vom Polar Verlag unterhalten zu können. Der Verlag gibt internationale Krimis heraus, in denen es richtig zur Sache geht und kein Stein auf dem anderen bleibt. Auf diesem Blog gibt es bereits mehrere Polar-Krimis; Ihr findet sie am schnellsten, wenn Ihr die Cover-Parade aufruft und auf den roten Polar-Schriftzug auf dem Cover achtet.
Zwei Tage vor unserem Besuch wurde die Gewinnerin des Selfpublishing-Preises gekürt. Gewonnen hat ihn Monika Pfundmeier mit ihrem historischen Roman "Löwenblut". Auch die Krimi-Autorin Ulrike Busch war mit ihrem Titel Mord auf der Hallig  nominiert, aber es hat leider nicht ganz gereicht, was ich sehr bedaure. Alle nominierten Bücher waren ausgestellt, und es war interessant zu sehen, welche Titel hier die Nase vorn hatten.   

Eine ganze Weile habe ich einem Vortrag auf dem Tolino-Stand zugehört. Im Kern ging es um die Frage, woran man einen künftigen Bestseller erkennt und im Umkehrschluss, wie man so ein Buch mithilfe von künstlicher Intelligenz kreiert. Na, herzlichen Glückwunsch. Noch mehr Mainstream-Mist braucht kein Mensch. Mir geht schon die Selbstoptimierung von Menschen gegen den Strich, und jetzt sollen auch noch Bücher so entstehen, dass sie für den Markt "optimiert" werden? Wenn sich so etwas durchsetzt, können wir uns vom Buch als Kulturgut verabschieden. 

Wenn Ihr Euch dafür interessiert, was ich außerhalb des Themas Bücher auf der Buchmesse erlebt habe, dann lest diesen Text.

Freitag, 5. Oktober 2018

# 170 - Von gelungenen Torten und zusammengefallenen Windbeuteln

Nikola Schwarzer ist promovierte Chemikerin und begeisterte Hobbybäckerin. Mit ihrem Buch Was uns schmeckt und was dahinter steckt widmet sie sich der Welt des Backens aus der Sicht der Chemie. Ihr Buch enthält daher keine Rezepte. 
Wer sich jetzt an die staubtrockenen Bücher erinnert, die in der Schulzeit in diesem Fach verwendet wurden, und jetzt nicht mehr weiterlesen will, verpasst etwas. Die Autorin bringt ihren Lesern näher, dass eine Küche im Grunde nur eine andere Art eines Chemielabors ist. Und das tut sie auf eine sehr unterhaltsame und auch für Laien sehr gut verständliche Weise.

Warum der eine Kuchen gelingt und der andere pappig wird

  

Die Welt der Hobbybäcker teilt sich in zwei Gruppen auf: Die einen halten sich strikt an die Vorgaben der Rezepte, die anderen sehen das gelassener und haben so viel Erfahrung, dass sie über die genaue Zusammensetzung eines Backwerks nicht mehr lange nachdenken müssen. Sie wissen, dass eine Prise Salz oder ein Backtriebmittel dazugehört und haben ein Gefühl für die richtige Mehlmenge. In der Regel haben diese beiden Gruppen allerdings gemeinsam, dass sie nicht oder nur sehr undeutlich wissen, was sie mit der Zugabe oder dem Weglassen von bestimmten Zutaten auslösen. Man muss so etwas nicht unbedingt wissen, um leckere Kuchen herzustellen. Aber die Hintergründe zu kennen ist so, als würde sich eine Tür öffnen, die einem ein besseres Verständnis ermöglicht.
Es ist zum Beispiel sinnvoll zu wissen, was die einzelnen Typenbezeichnungen für Mehl genau bedeuten. Type 405 kennt fast jeder, aber was erwartet mich bei Mehl der Typen 550 oder 1050? Was macht eigentlich ein Vollkornmehl aus?  Und warum ist Weizenmehl der Type 405 so beliebt?

Nikola Schwarzer hat das Buch in acht Kapitel aufgeteilt; jedes widmet sich einer Zutat, die in allen oder sehr vielen Backwaren enthalten ist. Die Kapitel beinhalten zum Schluss immer ein kleines Experiment. Beispielsweise werden im Abschnitt über Schokolade kleine Versuche gemacht, um herauszufinden, welchen Einfluss geringe Temperaturveränderungen auf das Aussehen, die Textur und das Mundgefühl haben. Unter der Rubrik "Denkanstoß", die ebenfalls in jedem Kapitel enthalten ist, geht es um Überlegungen zur jeweiligen Zutat, die nichts mit der heimischen Küche zu tun haben. Um beim Beispiel der Schokolade zu bleiben, klärt Schwarzer, ob sie tatsächlich glücklich macht und sie nicht doch gesund sein könnte - wenigstens ein kleines bisschen. Für Datenfans, die ein paar Schlagworte auf einen Blick haben wollen, ist zum Abschluss eines Kapitels eine Seite mit Zahlen und Fakten bestimmt. Jetzt weiß ich unter anderem, dass Kakao 600 verschiedene Aromastoffe enthält.

Wie war's?

 

Was uns schmeckt und was dahinter steckt ist ein sehr interessantes Buch, das auch Naturwissenschaftsmuffeln erklärt, was in der Rührschüssel und im Backofen passiert, bevor wir in ein Brot oder eine Biskuittorte beißen können. Um den Lesern den Inhalt noch besser zu verdeutlichen, hat Schwarzer sehr viele Fotos hinzugefügt.

Was uns schmeckt und was dahinter steckt ist im S. Hirzel Verlag erschienen und kostet 36,-- Euro (gebunden, mit Lesebändchen). Ich bedanke mich bei der Agentur Literaturtest, die mir den Titel zur Verfügung gestellt hat. 

Freitag, 28. September 2018

# 169 - Wer trieb die Raketenforschung in den USA voran?

Ein Buch, das die Geschichte der NASA gerade rückt

 

Mit Hidden Figures hat Margot Lee Shetterly ein Buch geschrieben, das sich sehr detailliert mit der Rolle und Position von schwarzen Frauen bei der NASA und ihrer Vorläuferorganisation, dem NACA, seit dem 2. Weltkrieg bis in die 1970-er Jahre beschäftigt. Ein Thema, über das vor dieser Veröffentlichung so gut wie nichts bekannt war.

Die Rolle von schwarzen Mathematikerinnen als "menschliche Computer" 

 

Was zunächst klargestellt werden muss: Hidden Figures wurde insbesondere als 2017 dreifach für den Oscar nominierter Kinofilm bekannt, in dem sich die Handlung um die drei afroamerikanischen Mathematikerinnen Katherine Goble, Dorothy Vaughan und Mary Jackson dreht. Die Vorlage für diesen Film war jedoch kein Roman, sondern ein Sachbuch. Das ist wesentlich für das Verständnis dieses Buches, in dem sich die jahrelange Recherche der Autorin widerspiegelt. Shetterly hat ihre Informationen aus derart vielen Quellen zusammengetragen, dass für die Anmerkungen und die Bibliografie 48 Buchseiten benötigt werden. Die großen geschichtlichen Schlagworte, die hier eine wesentliche Rolle spielen, sind bekannt: Die strikte Rassentrennung in den USA, die sich durch das ganze Leben der US-Amerikaner zog, wurde erst aufgeweicht, als gebildete Schwarze gebraucht wurden, weil es für die Aufgaben, die der NACA vor sich hatte, nicht genügend weißes Fachpersonal gab. Die Mathematikerin Dorothy Vaughan begann ihre Arbeit als menschlicher Computer beim Langley Memorial Aeronautical Laboratory, einer Einrichtung des NACA, im Dezember 1943. Bevor es die heutigen Computer gab wurden Menschen, deren Arbeit es war, komplizierte Berechnungen zu tätigen, als Computer bezeichnet. Die USA hatten es sich in diesem Abschnitt des 2. Weltkriegs zum Ziel gesetzt, ihre Feinde aus der Luft zu besiegen und benötigten technisch hoch entwickelte Flugzeuge.

Als der Krieg vorbei war, litten die Schwarzen unter den Auswirkungen der McCarty-Ära, die mit einer Kommunismus-Hysterie und ausufernden Verschwörungstheorien einher ging.
Katherine Goble trat erst 1953 als wissenschaftliche Mathematikerin in den NACA ein. Zwei Jahre zuvor begann dort Mary Jackson ihre Arbeit. Der Schwerpunkt hatte sich nun auf die Erforschung der Raumfahrt verlegt, da die USA auf diesem Gebiet in einem ständigen und teuren Wettstreit mit der UdSSR standen. Die Arbeit dieser drei schwarzen Wissenschaftlerinnen hat den Erfolg des Mercury- und Apollo-Programms ermöglicht. Geehrt wurde jedoch nur Katherine Goble (später Johnson), die neben meheren NASA-Auszeichnungen und Ehrendoktorwürden 2015 im Alter von 97 Jahren eine der höchsten zivilen Auszeichnungen der USA, die  Presidential Medal of Freedom, erhielt.


Lesen?

 

In Hidden Figures schildert Margot Lee Shetterly sehr genau einen Teil der jüngeren Geschichte der USA, der von der Unterdrückung und Geringschätzung der afroamerikanischen Bevölkerung geprägt war. Der Zugang zu Schlüsselpositionen in der US-Administration für gebildete Schwarze wurde einerseits durch die Beharrlichkeit und große Disziplin von Menschen wie den drei genannten Mathematikerinnen und andererseits durch den großen Mangel an fähigem Personal befördert. Die erfolgreiche Tätigkeit von Katherine Goble, Mary Jackson und Dorothy Vaughan war der Türöffner für die nach ihnen bei der NASA arbeitenden afroamerikanischen Wissenschaftlerinnen. Das Ziel der Gleichberechtigung ist jedoch auch mehr als 50 Jahre später noch nicht erreicht worden.  
Das Buch spricht nicht nur technik- und geschichtsbegeisterte Leser an, sondern auch solche, die sich für gesellschaftliche Themen interessieren. Wissenschaftliche Darstellungen sind nicht mit Fachbegriffen überfrachtet und sehr gut verständlich.

Hidden Figures ist bei HarperCollins erschienen und kostet als Taschebuch 14 Euro sowie als E-Book 12,99 Euro. Ich bedanke mich beim Verlag, der mir das Buch zur Verfügung gestellt hat.

Freitag, 21. September 2018

# 168 - "Wir werden immer radikaler"

Das ist der erste Satz auf dem Schutzumschlag des Buches Die radikalisierte Gesellschaft - von der Logik des Fanatismus des emeritierten Psychologieprofessors Ernst-Dieter Lantermann. Gemeint ist damit nicht nur die politische Radikalisierung, sondern auch die unserer Lebensweise: Da geht es um die fanatischen Selbstoptimierer, die ihre Laufrunden nie ohne ihren Fitness-Tracker gehen; die radikalen Veganer, deren Verzicht auf alles Tierische auch Bücher mit geleimten Rücken umfasst - der Leim könnte ja aus Knochen hergestellt worden sein.

Was führt zu einer Radikalisierung?

 

Lantermann erläutert anhand von Studien, wie es zu Radikalisierungen kommt und macht dabei einen Unterschied zwischen Radikalismus und Fanatismus. Er weist auch auf Arten von Radikalisierungen hin, die erst auf den zweiten Blick erkennbar sind: Ein Beispiel sind die Gated Communities, die in den USA, Südafrika, Russland oder Polen schon seit etlichen Jahrzehnten Normalität sind, hier aber erst seit einigen Jahren verstärkt gebaut werden. Menschen, die sich diese Wohnform leisten können, wollen sich abschotten gegen Gewalt, die außerhalb der Zäune und Schranken vermutet wird und fühlen sich hier sicher. Ein weiteres Motiv ist der Wunsch nach einer sozialen Homogenität, um unter Seinesgleichen zu sein und keine Neiddebatten führen zu müssen. Diese Anlagen liegen meist inmitten von Innenstädten: Der Wunsch der Bewohner nach Abschottung ist für die benachbarten Anwohner gleichzeitig eine Zurückweisung und ihnen bleibt der Eindruck, dort ausgenutzt zu werden, wo ihr Viertel Lebenswertes bietet - vom Kindergarten und der Schule bis zur Gastronomie und kulturellen Angeboten. Von den Community-Bewohnern kommt allerdings nichts zurück. Zwischen ihnen und den "außen" lebenden Menschen kommt es zu einer Distanz, wenn nicht sogar Gegnerschaft.

Die Wurzeln der Radikalisierung sieht Lantermann in den schnellen gesellschaftlichen Veränderungen, die bei vielen Menschen zu Unsicherheiten führen. Jeder hat das Bedürfnis nach Gewissheit, Sicherheit, Überschaubarkeit und Kontrollierbarkeit. Wenn dieses Bedürfnis über einen längeren Zeitraum hinweg unerfüllt bleibt, sind die Selbstachtung und das Selbstwertgefühl bedroht. Eine häufige Reaktion ist dann, sich selbst Sicherheiten und Gewissheiten zu schaffen - in der Radikalisierung oder gar im Fanatismus.

Wie war's?

 

Das Buch hat mich leider nicht rundum überzeugt. Die Ursachen von Radikalisierung und Fanatismus werden gut verständlich erklärt, diese Erläuterung wiederholt sich jedoch einige Male in leicht veränderten Zusammenhängen. Der Klappentext hat zudem den Eindruck vermittelt, dass sich Lantermann verschiedenen Ausprägungen des Fanatismus gleichermaßen widmen würde, das ist jedoch nur bedingt der Fall: Es werden mehrere Varianten wie z. B. die Selbstoptimierung behandelt, den deutlich breitesten Raum nimmt allerdings die politische Radikalisierung ein. In Anbetracht des politischen Geschehens ist das zwar nachvollziehbar, der Klappentext ist hier jedoch irreführend.
Lantermanns Hoffnung, dem politischen Fanatismus und der Radikalisierung etwas entgegenzusetzen, ruht auf einer engagierten Zivilgesellschaft und er  beklagt, dass sich ehrenamtlich Engagierte nicht nur von Rechtsextremen, sondern auch von so manchen Politikern anhören müssen, sie seien Bahnhofsklatscher oder Gutmenschen.

Die radikalisierte Gesellschaft - von der Logik des Fanatismus ist im Blessing Verlag erschienen und kostet als gebundene Ausgabe 19,99 Euro sowie als epub- oder Kindle-Edition 15,99 Euro.

Donnerstag, 13. September 2018

# 167- Blogtour "Mutige Frauen"

Was macht Frauen zu mutigen Frauen?

 

In diesem Jahr sind im Herder Verlag bereits zwei Bücher erschienen, die sich mit mutigen Frauen beschäftigen: Hildegard von Bingen - die mächtigste Nonne des Mittelalters von Maria Regina Kaiser und Gabriele Münter - ein Leben zwischen Kandinsky und Kunst von Stefanie Schröder.

Hildegard von Bingens Name ist heute vor allem deshalb bekannt, weil zahlreiche Unternehmen mit Gesundheitsprodukten, auf die sie ihren Namen drucken, ihr Geld verdienen. Maria Regina Kaiser hat das Leben der bekanntesten Nonne des Mittelalters in Romanform beschrieben, und man kommt zu dem Schluss: Ja, Heilpflanzen spielten für sie eine große Rolle, aber ihr Leben und Wirken wurde von dem dominiert, was Gott ihr sagte. Schon in jungen Jahren, bevor sie ihr Leben Gott und der Kirche widmete und ins Kloster ging, hatte der Glaube voll von ihr Besitz ergriffen. Das, was sie lenkte und sie auch zu unbequemen Entscheidungen bewog, war das unregelmäßige Auftreten des 'lebendigen Lichts'. So hat sie das, was sie in den Momenten, in denen es ihr erschien, selbst bezeichnet. Sie besaß die Gabe, die Zukunft einzelner Menschen vorherzusehen und wurde oft von einem hellen Licht eingehüllt, in dem sie eine Stimme hörte, die ihr Ratschläge gab oder zeigte, wie sie ihren Lebensweg fortsetzen sollte. So entstand auch der Entschluss, die Klausnerei im Kloster Disibodenberg, der sie als Äbtissin vorstand, zu verlassen und das Frauenkloster Rupertsberg zu gründen. Die Mönche waren von dieser Entscheidung nicht begeistert: Einige von ihnen waren während der Beichte, die sie den Nonnen abnahmen, mehrmals übergriffig geworden. Dieses Amüsement wurde ihnen nun genommen. Der Abt wollte den Auszug der Nonnen auch darum verhindern, weil die Ratschläge Hildegards so populär waren, dass sich ständig zahlreiche Pilger einfanden. Und viele Besucher waren gleichbedeutend mit einem stetigen Fluss von Einnahmen. Nur unter der Hand wurde von den Mönchen kritisiert, dass ohne die Nonnen, die damals allesamt dem wohlhabenden Adel entstammten, auch keine Mitgift mehr zu erwarten war. Schlimmer noch: Hildegard verlangte sogar, dass ein Teil der von den Damen mitgebrachten Güter wieder herausgegeben werden sollte, um für den Bau und Betrieb des neuen Klosters verwendet zu werden. Eine gewisse Ironie der Geschichte liegt darin, dass heute mit Heilpflanzen, Wässerchen und Tinkturen, die angeblich auf Hildegard zurückgehen, reichlich Kasse gemacht wird, die tief gläubige Nonne sich aber selbst nicht zu helfen wusste: Ihr Leben war von einer damals rätselhaften Krankheit dominiert, die sie schon als Kind gebrechlich machte und immer wieder dafür sorgte, dass Hildegard von Muskelkrämpfen gelähmt wurde und oft lange nicht das Bett verlassen konnte. Aus heutiger Sicht kann es sich bei ihrer Erkrankung um Multiple Sklerose gehandelt haben.
Hildegard lebte in der für sie gesicherten Gewissheit, dass Gott durch das 'lebendige Licht' zu ihr spricht und ihr Handeln immer im Einklang mit dem Willen des Herrn steht, wenn sie diesen befolgt. Das war es, was sie stark gemacht hat, und mit dieser Stärke war es ihr möglich, die Widerstände, die ihr als Frau entgegenschlugen, auszuhalten und so viel Ansehen zu gewinnen, dass ihre sogenannten Schauungen auch vom Papst gutgeheißen wurden und sie sie aufschreiben durfte. Doch sie ließ nicht mit sich reden, wenn es um die Neuaufnahme von jungen Mädchen oder Frauen in ihr Kloster ging: Wer keine adelige Herkunft vorweisen konnte, hatte keine Chance. Gott scheint an dieser Stelle geschwiegen zu haben.
Hildegard von Bingen starb 1179 im Alter von 81 Jahren.


Gabriele Münter ist oft nur Kunstinteressierten ein Begriff. Erst, wenn der Name Wassily Kandinsky fällt, stellt sich der "Aha-Moment" ein. Die beiden waren etliche Jahre ein Liebespaar. Münter hatte den russischen Maler Kandinsky als Lehrer in einer Malschule kennengelernt und sich zunächst gegen seine Annäherungsversuche gesträubt. Sie blickte zu dem fast zwölf Jahre älteren Mann auf und fühlte sich von seinen Liebesbeteuerungen geschmeichelt. Kandinsky war allerdings noch verheiratet, beteuerte aber immer wieder inbrünstig, sich scheiden lassen und Münter heiraten zu wollen. Doch immer, wenn er von einem Besuch in Russland zurückkam, hatte er "vergessen", sich um die nötigen Formalitäten zu kümmern. Frauen scheinen zu allen Zeiten auf so einen Schwachsinn hereingefallen zu sein.
Gabriele Münter war in konservativen Verhältnissen aufgewachsen und hatte ein großes Talent zum Zeichnen und Malen. Schon als Kind war sie mehrmals umgezogen, und mit Kandinsky setzte sich dieses Nomadenleben fort. Das lag jedoch nicht an ihr, sondern an ihrem Geliebten: Er hatte eine große innere Unruhe, die ihn von einem Ort zum anderen trieb, hielt es aber immer weniger an Orten aus, wo sich viele Menschen befanden. Münter fühlte, wie sie von seinen psychischen Problemen immer weiter vereinnahmt wurde; sie seelisch unter Druck zu setzen, beherrschte Kandinsky meisterhaft. Sie nahm es zur Kenntnis, von ihren Geschwistern bedrängt und von den Mitmenschen moralisierend beäugt zu werden, weil ihr Lebenswandel in dieser Zeit dem einer Hure gleichkam. Die 1903 von Kandinsky betriebene Verlobung mit Münter, auf der er trotz seiner immer noch existierenden Ehe bestand, war ein Strohhalm, an dem sich Münter festhielt. Die Malerin lebte sparsam von ihrem Erbteil und hat sich von Kandinsky dazu überreden lassen, ein Ferienhaus in Murnau am Staffelsee (Oberbayern) als Sommerhaus und Alterswohnsitz zu kaufen. Das Haus wurde zum Treffpunkt bekannter Künstler wie Franz Marc oder August Macke. Letztlich kam es jedoch 1916 zwischen Münter und Kandinsky zum Bruch, und bereits ein Jahr später heiratete Kandinsky eine andere Frau.
Aber nicht nur das stetige Auf und Ab dieser Beziehung wurde zum Problem. Gabriele Münter musste erfahren, dass sie von den Malern ausgegrenzt wurde. Kleinliche und eitle Streitigkeiten, die von August Macke ausgegangen waren, waren die Ursache. Macke fühlte sich bei der Kunst-Publikation Der Blaue Reiter zu wenig beachtet und gönnte seiner Kollegin nicht die Aufmerksamkeit. Eine belastende Situation für Münter, die immer nach zwischenmenschlicher Harmonie strebte. 
Auch wenn Stefanie Schröder den roten Faden von Gabriele Münters künstlerischer Entwicklung verfolgt, liegt der Schwerpunkt auf ihrem sozialen Leben. Die Beziehungen zu ihren Geschwistern, zu Kandinsky und ihrem späteren Lebensgefährten Johannes Eichner sowie zu der damaligen Kunstszene sind das wesentliche Element des Buches. Gabriele Münter starb als alleinstehende Frau 1962 im Alter von 85 Jahren in ihrem Haus in Murnau.

Was ist Mut?

 

Darüber, was Mut ist, scheiden sich die Geister. Vielleicht kann man sich darauf einigen, dass Mut dadurch gekennzeichnet ist, dass man für eine wichtige Sache bereit ist, über den eigenen Schatten zu springen und Ängste zu überwinden, weil man nur so glaubt, sein Ziel erreichen zu können. Die Risiken, die man dabei eingeht, werden bewusst in Kauf genommen. Sind Hildegard von Bingen und Gabriele Münter vor dem Hintergrund dieser Definition mutige Frauen ihrer Zeit gewesen? Ich denke, diese Frage ist schwer zu beantworten. Hildegard von Bingen war von ihrem tiefen Glauben durchdrungen und handelte in der festen Überzeugung, nur das zu tun, was Gott von ihr erwartet. Da ihre Erkrankung sich immer dann besserte, wenn sie sich über alle Ermahnungen und Vorhaltungen hinwegsetzte und die Anweisungen des 'lebendigen Lichts' befolgte, war sie sicher, dann das Richtige zu tun. Das befähigte sie dazu, sich gegen die Wünsche auch der höchsten kirchlichen Würdenträger zu stellen und das durchzusetzen, was ihrer Meinung nach Gottes Wille war. Das, was sie tat, war also im eigentlichen Sinne nicht ihr eigener Entschluss, über den sie sich Gedanken gemacht und der in ihr gereift war. Sie war streng genommen ein Werkzeug Gottes.
Auch bei Gabriele Münter ist die Sache nicht eindeutig. Sie war zerrissen zwischen ihrer Beziehung zu Kandinsky und den Erwartungen, die nicht nur ihre Familie, sondern auch sie selbst an ihr Leben stellte. Nichts hätte sie lieber getan, als mit dem Maler eine ganz normale und bürgerliche Familie zu gründen. Stattdessen schien zwischen den beiden eine gegenseitige seelische Abhängigkeit bestanden zu haben. So legt es jedenfalls die Darstellung von Stefanie Schröder nahe. Als die Beziehung mit Kandinsky zerbrach, war Münter fast 40 Jahre alt und nicht mehr in einem Alter, in dem man damals noch heiratete, um eine Familie zu gründen. Möglicherweise hat ihr die Trennung gezeigt, dass sie auch gut ohne den Maler zurechtkam, aber das ist Spekulation. Mutig war jedoch ihr 1938 gefasster Entschluss, Kandinskys Bilder in ihrem Haus in Murnau zu verstecken, als sogar in Privathäusern nach sogenannter entarteter Kunst gefahndet wurde. Damit hat sie Haft, wenn nicht sogar ihr Leben riskiert.

Beide Bücher kosten als gebundene Ausgabe je 22 Euro und als epub- oder Kindle-Edition 16,99 Euro.
In Kürze erscheint in dieser Reihe eine Romanbiografie von Nadine Sieger, die sich mit dem Leben von Coco Chanel beschäftigt. 

An dieser Blogtour nehmen noch diese Blogs teil:
Lesendes Federvieh 

Katis Bücherwelt  
Klusi liest 

Ich bedanke mich bei der Agentur Literaturtest für ihre Unterstützung.